Noch vor wenigen Jahrzehnten war Sport eine reine Männerdomäne. Frauen mussten sich ihren Platz auf Spielfeldern, in Trainingszentren und Wettkampfhallen kämpferisch erobern. Heute nehmen Sportlerinnen an nahezu allen Sportarten teil, und bei Olympischen Spielen sind sie in etwa zur Hälfte vertreten. Trotzdem existiert eine oft übersehene Barriere: der sogenannte «Gender Data Gap». Diese Datenlücke hat gravierende Folgen für das Training, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit von Sportlerinnen.
Dieser Artikel beleuchtet detailliert, worauf Coaches achten müssen, um Sportlerinnen optimal zu fördern und Risiken zu vermeiden.
Was ist der Gender Data Gap?
Das Problem: Trainingsmethoden, Regenerationskonzepte und Verletzungsprävention basieren häufig auf Daten, die für den männlichen Körper optimiert wurden. Sportlerinnen trainieren demnach unter Voraussetzungen, die nicht optimal auf ihre physiologischen und biomechanischen Besonderheiten abgestimmt sind.
Physiologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Sport
Herz und Sauerstofftransport
Das Herz von Frauen ist durchschnittlich kleiner und die Herzmuskelwände sind dünner als bei Männern. Dadurch pumpen Frauenherzen weniger Blut pro Schlag, was sich direkt auf die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) auswirkt — ein wichtiger Faktor für Ausdauerleistungen.
Hormonelle Einflüsse
- Testosteron: Verantwortlich für mehr Muskelmasse und Grösse bei Männern.
- Östrogen: Unterstützt bei Frauen einen effizienteren Fettstoffwechsel, insbesondere bei Ausdauerbelastungen.
Das bedeutet: Frauen können auf langen Strecken (z. B. Ultramarathon) Vorteile haben, da sie ökonomischer Fett verbrennen und Kohlenhydrate sparen.
Körperzusammensetzung und Biomechanik
Frauen haben im Schnitt einen höheren Körperfettanteil und weniger Muskelmasse. Ihr Becken ist breiter, was zu einer anderen Beinachse führt. Dadurch steigt das Risiko für bestimmte Verletzungen, etwa Kreuzbandrisse. Zudem verändert sich der Schwerpunkt – was z. B. bei Spr was z. B. bei Spr\u00fungen oder Drehbewegungen relevant ist.
Typische Missverständnisse im Training von Sportlerinnen
1. «Ein Trainingsplan passt für alle.»
Falsch. Frauen reagieren auf Belastung anders, nicht nur wegen ihrer Physiologie, sondern auch aufgrund zyklusbedingter Schwankungen. Training sollte auf individuelle Bedürfnisse angepasst werden, idealerweise unter Berücksichtigung des Menstruationszyklus.
2. «Mehr Krafttraining gleicht alles aus.»
Nicht ganz. Trotz intensiven Krafttrainings werden Frauen nicht denselben Muskelzuwachs wie Männer erreichen, hauptsächlich wegen der geringeren Testosteronproduktion. Ziel sollte funktionale Kraftentwicklung sein, nicht der Vergleich mit männlichen Benchmarks.
3. «Verletzungsrisiko ist bei Frauen und Männern gleich.»
Nein. Die Biomechanik und hormonelle Unterschiede (z. B. veränderte Bandlaxität durch Östrogen) beeinflussen das Verletzungsrisiko deutlich. Besonders Kreuzbandverletzungen sind bei Sportlerinnen häufiger.
Was Coaches über die spezifische Trainingssteuerung bei Frauen wissen müssen
1. Zyklusorientiertes Training
Der weibliche Menstruationszyklus beeinflusst nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die körperliche Leistungsfähigkeit – oft spürbar, selten berücksichtigt. Um Sportlerinnen optimal zu trainieren und gesundheitlich zu schützen, sollten Coaches die zyklusbedingten Schwankungen verstehen und in die Trainingsplanung einbeziehen.
- Phase 1: Follikelphase (Tag 1–14)
Diese Phase beginnt mit dem ersten Tag der Menstruation. In der frühen Follikelphase ist der Hormonspiegel niedrig, was viele Sportlerinnen als neutral oder sogar entlastend empfinden. Im weiteren Verlauf steigt der Östrogenspiegel an. Östrogen wirkt sich positiv auf die Muskulatur und das Herz-Kreislauf-System aus: Die Regeneration verläuft schneller, das Energielevel steigt, das Schmerzempfinden sinkt, und die Trainingsbelastung kann tendenziell höher sein. Viele Sportlerinnen erreichen hier ihre Peak-Leistung. - Phase 2: Ovulation (um Tag 14)
Kurz vor und während des Eisprungs kann sich durch hormonelle Schwankungen (insbesondere ein Anstieg von Luteinisierendem Hormon – LH) das Risiko für Verletzungen erhöhen, z. B. durch nachlassende Gelenkstabilität. Hier ist erhöhte Aufmerksamkeit für Bewegungsqualität und Belastungssteuerung gefragt. - Phase 3: Lutealphase (Tag 15–28)
Nach dem Eisprung steigt der Progesteronspiegel. Diese Phase ist häufig mit stärkeren Erschöpfungstendenzen, geringerer Trainingsbelastbarkeit und längeren Erholungszeiten verbunden. Viele Frauen berichten auch über vermehrte Wassereinlagerungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder Stimmungsschwankungen. In dieser Phase ist ein angepasstes Trainingspensum mit Fokus auf Technik, Mobilität oder Regeneration oft sinnvoller als hochintensive Belastungseinheiten.
Empfehlung für Coaches:
Zyklusorientiertes Training ist kein Modebegriff, sondern ein wertvolles Instrument für nachhaltige Leistungsentwicklung und Verletzungsprävention. Ermutigen Sie Ihre Athletinnen, ihren Zyklus zu tracken – und passen Sie Trainingsinhalte entsprechend an. Dabei gilt: Nicht jede Frau spürt diese Phasen gleich stark, aber wer sie kennt und berücksichtigt, trainiert gezielter, gesünder und effektiver.
2. Verletzungsprävention gezielt angehen
Zur gezielten Verletzungsprävention bei Sportlerinnen empfiehlt sich ein dreifacher Trainingsfokus: Erstens sollte regelmäßig propriozeptives Training durchgeführt werden, um die Stabilität der Knieachse zu verbessern – besonders wichtig bei Sportarten mit vielen Sprüngen und Richtungswechseln. Zweitens ist die Kräftigung der rumpfstabilisierenden Muskulatur essenziell, da ein stabiler Rumpf die Belastung auf Knie und Hüften reduziert. Drittens sollten Technikübungen für saubere Sprunglandungen und kontrollierte Bewegungswechsel in den Trainingsalltag integriert werden. Coaches sollten diese Elemente konsequent in ihren Trainingsplänen berücksichtigen, um das Verletzungsrisiko nachhaltig zu senken.
Empfehlung: Starke Knie, ein stabiler Rumpf und saubere Technik sind kein Extra – sie sind Grundvoraussetzung, um Verletzungen bei Sportlerinnen wirksam vorzubeugen. Coaches sollten diese Bausteine nicht als Zusatz, sondern als festen Bestandteil jeder Trainingswoche betrachten.
3. Langfristige Gesundheit beachten
Frauen neigen bei übermässigem Training schneller zu Red-S (Relative Energy Deficiency in Sport), was zu Zyklusstörungen, Osteoporose und erhöhtem Verletzungsrisiko führen kann.
Empfehlung: Energiebilanzen im Blick behalten und auf Warnzeichen wie Zyklusunregelmäßigkeiten achten.
Wie der Gender Data Gap zu schliessen ist – und was Coaches beitragen können
Warten Sie nicht auf neue Studien — informieren Sie sich aktiv über bestehende Erkenntnisse zur Frauengesundheit im Sport. Nutzen Sie Fortbildungen und Netzwerke.
2. Daten bewusst sammeln
Dokumentieren Sie Trainingsreaktionen Ihrer Sportlerinnen individuell. Erheben Sie Daten über den Einfluss des Zyklus, Erholungszeiten, Verletzungen und Leistungsentwicklung.
3. Athletinnen stärken
Ermutigen Sie Sportlerinnen, ihre Körperwahrnehmung zu schulen. Reden Sie offen über Themen wie Menstruation, Energiebilanzen und langfristige Gesundheit.
4. Forschung unterstützen
Arbeiten Sie mit medizinischen Einrichtungen zusammen, beteiligen Sie sich an Studien über Frauengesundheit im Sport und fordern Sie mehr Genderspezifische Forschung.
Schlusswort: Coaches tragen Verantwortung
Sensibilisierung allein reicht nicht — echtes Wissen, echte Anpassung und echtes Interesse sind gefordert. So wird der Weg frei für eine wirklich gleichberechtigte Sportwelt.
- Interviews und Analysen mit Carolin Heckemeyer und Dr. Sibylle Matter
- Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu Frauengesundheit und Sportphysiologie