Wer Athlet:innen im Leistungssport begleitet – sei es als Coach, Trainer:in oder Mentor:in – weiss, dass physische Betreuung nur ein Teil des Erfolgsrezepts ist. Mindestens genauso entscheidend ist, wie gut wir als Begleitpersonen mit den Menschen hinter den sportlichen Leistungen in Verbindung stehen. Genau hier kommt aktives Zuhören ins Spiel. Doch während viele Coaches denken, sie würden zuhören, passiert in Wirklichkeit oft etwas anderes: Wir analysieren, werten, beraten – aber wir hören nicht wirklich.
Dieser Artikel richtet sich an alle, die Sportler:innen nicht nur körperlich, sondern auch emotional stark machen wollen. An Coaches, die verstehen wollen, wie mächtig echtes Zuhören ist – und wie es sich von blossem Schweigen oder gut gemeintem Problemlösen unterscheidet. Und an diejenigen, die lernen wollen, mit ihrer Präsenz statt mit Rezepten zu wirken.
Zuhören ist nicht gleich zuhören
Viele glauben, zuhören bedeute, still zu sein, während jemand anderes spricht. Doch echtes Zuhören, wie es Carl Rogers – einer der Begründer der klientenzentrierten Psychotherapie – verstand, geht viel tiefer. Es ist ein empathischer, nicht-wertender Akt, bei dem wir unsere eigene Agenda bewusst beiseitelegen.
Rogers schrieb:
„Wir denken, wir hören zu, aber sehr selten hören wir mit echtem Verständnis, mit wahrer Empathie. Und doch ist genau dieses Zuhören eine der stärksten Kräfte für Veränderung, die ich kenne.“
Das ist kein esoterischer Satz. Es ist eine praktische Einladung: Wenn ein:e Athlet:in vor dir sitzt und über Druck, Verletzungen, Selbstzweifel oder familiäre Konflikte spricht – braucht diese Person keine Lösung. Sie braucht Verbindung.
Das Coaching-Paradox: Helfen wollen kann im Weg stehen
Gerade Coaches, die etwas bewegen wollen, tappen schnell in die Problemlösungsfalle. Das zeigt auch das Dokument Listening Without Trying to Solve aus der Positive Psychology Toolkit-Sammlung sehr deutlich. Der Impuls, helfen zu wollen, ist menschlich. Doch in vielen Fällen untergräbt er genau das, was Athlet:innen eigentlich brauchen: Raum. Resonanz. Gesehenwerden.
Die Psychologen Calhoun und Tedeschi sprechen in ihrem Ansatz zur Förderung von posttraumatischem Wachstum davon, dass Therapeuten – und das lässt sich problemlos auf Coaches übertragen – lernen müssen, zuzuhören ohne zu lösen. Dieser Grundsatz wirkt zunächst kontraintuitiv. Doch wer es ausprobiert, merkt schnell: Der Effekt ist tiefgreifend.
Warum Zuhören ohne Lösung so wirkungsvoll ist
Der zentrale Gedanke: Wenn jemand über ein Problem spricht, möchte er oder sie nicht sofort die „richtige“ Antwort hören. Stattdessen geht es darum, gehört zu werden. Nicht unterbrochen zu werden. Nicht bewertet zu werden. Nicht analysiert zu werden. Sondern in einem sicheren Raum einfach sein zu dürfen.
Das führt zu mehreren Effekten, die gerade im Coaching essenziell sind:
-
- Erhöhung der Selbstwahrnehmung: Wenn Athlet:innen sprechen dürfen, ohne gelenkt zu werden, reflektieren sie tiefer über sich selbst.
- Selbstverantwortung statt Abhängigkeit: Wer Lösungen serviert bekommt, lernt nicht, selbst zu denken. Wer sich verstanden fühlt, findet oft selbst den nächsten Schritt.
- Vertrauensaufbau: Nichts schafft mehr Nähe als echtes Zuhören.
- Emotionale Entlastung: Es tut gut, Gefühle loszuwerden – ohne dass jemand sie reparieren will.
Carl Rogers bringt es auf den Punkt:
„Wenn du in psychischem Stress bist, und jemand hört dir zu, ohne dich zu bewerten, ohne Verantwortung für dich zu übernehmen, ohne dich formen zu wollen – das fühlt sich verdammt gut an.“
Aktives Zuhören: Was es ist – und was nicht
Aktives Zuhören ist kein Trick. Es ist auch keine Technik, um jemanden „zu öffnen“. Es ist eine Haltung.
Es bedeutet:
- mit voller Präsenz beim Gegenüber zu sein,
- die eigenen Gedanken, Bewertungen und Lösungsvorschläge bewusst zurückzuhalten,
- mit dem Körper zu zeigen: Ich bin da. Ich höre dich.,
- Pausen auszuhalten, ohne sie füllen zu wollen,
- zuzuhören, ohne auf den eigenen Einsatz zu warten.
Aktives Zuhören ist nicht:
- eine Einladung zur Diagnose,
- eine Gelegenheit, von sich selbst zu erzählen („Das kenne ich, mir ging’s mal genauso…“),
- ein Wettlauf zur besten Lösung,
- Schweigen mit leerem Blick,
- nettes Kopfnicken, während man gedanklich schon beim Trainingsplan ist.
Wie sich Zuhören konkret im Coachingalltag umsetzen lässt
Ein guter Coach wird nicht zum Therapeuten – aber er oder sie kann therapeutisch wirken. Und das geht oft genau dann, wenn man bewusst nicht interveniert.
Wie das aussieht?
Eine Athletin kommt nach dem Training zu dir, den Blick gesenkt. Sie sagt: „Ich weiss nicht, ich bin grad total neben der Spur.“ Was passiert jetzt?
Typische Reaktion: „Was ist los? Schlafprobleme? Schule stressig? Sollen wir an deiner Ernährung arbeiten?“ – Das ist verständlich, aber wenig hilfreich.
Alternative über aktives Zuhören: Du schaust sie an, nickst leicht, bleibst ruhig. „Erzähl.“ Dann schweigst du. Und hörst. Wenn sie innehält, sagst du vielleicht: „Hm. Das klingt schwer.“ Oder: „Du wirkst echt erschöpft.“
Kein Ratschlag. Keine Lösung. Nur Präsenz. Und genau das schafft eine Atmosphäre, in der sie sich selbst wiederfinden kann.
Das ist alles andere als einfach, gerade wenn dies in einem grossen Curling-Turnier passiert und ein Spieler zum Coach kommt und sagt, «ich kann die letzten Steine nicht spielen, ich fühle mich nicht sicher dabei.» Schnelle Lösung, «Du musst» aber oder hinhören? Zuhören und auf den Spieler eingehen? Es ist schwierig – aber kann entscheidend für den Erfolg am Turnier sein.
Das Experiment: Zuhören mit und ohne Lösung
Das begleitende Dokument beschreibt ein eindrucksvolles Gruppen-Experiment: Zwei Personen tauschen sich aus – einmal mit dem Fokus auf reinem Zuhören, einmal mit aktivem Problemlösen. Danach wird reflektiert.
Das Ergebnis ist fast immer gleich: Die Person, die ohne Lösung zugehört hat, wurde als deutlich empathischer wahrgenommen. Und der oder die Erzählende fühlte sich emotional deutlich verbundener.
Für Coaches bedeutet das: Wenn ihr Vertrauen und Bindung aufbauen wollt, hilft euch kein noch so kluger Plan. Sondern eure stille, ungeteilte Aufmerksamkeit.
Typische Stolperfallen und wie du sie vermeidest
Aktives Zuhören klingt einfach, ist aber eine echte Übungssache – vor allem für Menschen, die gewohnt sind, Lösungen zu liefern. Folgende Hürden tauchen immer wieder auf:
1. Der innere Ratgeber springt an. Du hörst ein Problem und sofort ploppt eine Idee auf. Tipp: Atme. Und lass sie ziehen. Du musst nicht antworten.
2. Du hast das Gefühl, „nichts zu tun“. Zuhören wirkt passiv – ist es aber nicht. Deine stille Präsenz ist die Intervention.
3. Du wirst ungeduldig. Manchmal erzählen Athlet:innen sprunghaft, langatmig oder unklar. Das gehört dazu. Halte aus. Sei ein Container, kein Filter.
4. Du willst bestätigen oder trösten. Auch das ist menschlich – aber oft kontraproduktiv. „Das wird schon“ klingt gut, entwertet aber manchmal die erlebte Schwere.
5. Du hast Angst, dich angreifbar zu machen. Zuhören bedeutet Nähe. Nähe bedeutet, sich berühren zu lassen. Und ja – das kann dich auch selbst fordern. Aber genau hier entsteht Verbindung.
Was sich verändert, wenn du wirklich zuhörst
Wenn du als Coach aktives Zuhören kultivierst, verändert sich die Dynamik mit deinen Athlet:innen grundlegend. Sie spüren, dass sie nicht nur funktionieren müssen, sondern als Menschen wahrgenommen werden. Das stärkt:
- das Selbstvertrauen,
- die Resilienz in Krisen,
- die intrinsische Motivation,
- das Gefühl von Zugehörigkeit,
- und nicht zuletzt: die Performance.
Denn ein Mensch, der sich verstanden fühlt, wird eher bereit sein, Feedback anzunehmen, sich zu öffnen und sich auf Veränderung einzulassen. Und genau das ist der fruchtbare Boden für nachhaltige Entwicklung – nicht nur im Sport, sondern im Leben.
Fazit: Zuhören ist kein Luxus, sondern Grundlage
Aktives Zuhören ist keine zusätzliche Methode im Coaching-Koffer. Es ist die Basis. Wer Sportler:innen begleiten will, sollte sich nicht nur für ihre Trainingsdaten, ihre Taktik und Technik interessieren – sondern für den Menschen, der alles trägt. Und das beginnt nicht mit einem Ratschlag, sondern mit einem Moment stiller Präsenz.
Also: Beim nächsten Gespräch – sag weniger. Sei mehr da. Und hör wirklich hin.